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23 Juli, 2006

Hirsi Ali und Verdonk: Alles über Nichts

Wenn Sie ja Alles über das Phenomen Ayaan Hirsi Ali wissen wollen, und auch noch was sich im Haag ereignet, lesen Sie bitte dieses kapitales gesamtartikel von Florian Went, erschienen 23. Juli 2006 als "Balkenende Ohne Ende" auf dem Telepolis Blog. Gutes Deutsch. Kein Kommentar.

Balkenende ohne Ende

Floriaan H. Went 23.07.2006

Der Fall Hirsi Ali, die niederländische "eiserne Lady" und die Umstände, die zum zweiten Sturz der Regierung Balkenende mit baldiger Wiederauferstehung führten

Am 11. Mai 2006 sendete das staatlich subventionierte niederländische Fernsehprogramm Zembla einen Bericht über [extern] Ayaan Hirsi Alis Angaben bei ihrer Asylanfrage anno 1992. Die Sendung wurde Anlass zum zweiten Sturz einer Regierung unter dem niederländischen Premierminister Balkenende innerhalb von vier Jahren, führte am 7. Juli 2006 zur Bildung des dritten Kabinetts Balkenende und zu verfrühten Neuwahlen am 22. November 2006.

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Jan Peter Balkenende

Die unter dem Namen Ayaan Hirsi Magan geborene Somalierin hatte sich 1992, auf der Reise zu ihrem angeblich zwangsverheirateten Mann in Kanada, über Deutschland in die Niederlanden abgesetzt. Ihre Reise begann in Kenia, wo sie, ihre Eltern und Geschwister seit zwölf Jahren als politische Flüchtlinge wohnten. Hirsi Alis Vater, Hirsi Magan Isse, war engagierter politischer Gegner des somalischen Diktatoren Mohammed Siyad Barre und als solcher nach Hirsi Alis Geburt in somalischer Haft. Er flüchtete 1976 nach Saudi-Arabien und später Äthiopien, um sich schließlich mit seiner Familie in Kenia niederzulassen. Seine Tochter Hirsi Ali arbeitete die beiden Jahre vor ihrer Flucht in die Niederlande als Übersetzerin für UNDP (United Nations Development Program).

Hirsi Ali erhielt 1992 niederländisches Asyl. Sie studierte Politologie und wurde 1997 Niederländerin. Im selben Jahr schloss sie sich der alteingesessenen sozialdemokratischen [extern] Partij van de Arbeid (PvdA) an, wechselte 5 Jahre später aber zu dessen politischem Antagonisten, der liberal-konservativen [extern] Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), für die sie seit Beginn 2003 Parlamentsmitglied war.

In diesem Jahr schrieb Hirsi Ali das Drehbuch für den Kurzfilm [extern] Submission, für welchen [extern] Theo van Gogh die Regie führte ([local] Da staunt der Islamist). Letztgenannter wurde am 2. November 2004 in Amsterdam auf offener Straße von einem holländischen Islamisten erstochen ([local] Dschihad in Amsterdam?, [local] Dschihad oder Selbstjustiz?), laut Gerichtsurteil übrigens dem ersten niederländischen Terrorakt. Weil van Goghs Mörder Mohammed Bouyeri auch Hirsi Ali mit dem Tod bedroht hatte, tauchte sie in den Vereinigten Staaten unter. Seit ihrer Rückkehr wurde Hirsi Ali in den Niederlanden permanent bewacht und wohnte sie in speziell geschützten Unterkünften.

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Hirsi Ali protestierte im Februar 2005 in einem Interview mit der Zeitung NRC Handelsblad dagegen, dass sie aus Sicherheitsgründen im Geheimen in einer fensterlosen Zelle einer schwer bewachten Marinebasis unterkommen musste. Sie forderte ein normales, aber bewachtes Unterkommen, welches sie kurz darauf auch erhielt in einer durch den Staat erworbenen Wohnung in Den Haag. 12 andere Bewohner des Gebäudes fühlten sich bedroht durch potentielle Anschläge auf Hirsi Ali, klagten den Staat an wegen der Gefährdung ihrer Leben und der Wertverminderung ihrer Wohnungen und forderten Hirsi Alis Auszug. Sie erhielten recht, eine sehr enttäuschte Hirsi Ali musste wegziehen.

Hirsi Ali, die sich international als vehemente Kritikerin des Islam profiliert hatte, wurde in Holland aber auch wegen ihres polarisierenden Stils schwer kritisiert. So hatte sie den Propheten Mohammed als "perversen Mann" bezeichnet und verteidigte entsprechend im Januar 2006 in einer Pressekonferenz in Berlin anlässlich des Karikaturenstreites ein "Recht auf Beleidigung". Vor der Zembla-Reportage und dem gerichtlich erzwungenen Umzug hatte sie geplant, am 1. Mai 2007 nach Washington zu ziehen, um dort für den neokonservativen Thinktank [extern] American Enterprise Institute zu arbeiten.

Die Journalisten des Fernsehberichtes mit dem Titel "Die heilige Ayaan" untersuchten die Richtigkeit von Hirsi Alis Asylangaben. Im Bericht wurde breit dargelegt, dass Hirsi Ali bei ihrem Asylantrag neben einem falschen Nachnamen und Alter auch weitere falsche Angaben gemacht hatte. So flüchtete sie nicht aus dem Kriegsgebiet Somalia, sondern aus Kenia. Auch Hirsi Alis Aussage, dass sie wegen ihrer Flucht vor der Zwangsheirat durch ihre Familie bedroht werde, stellte der Fernsehbericht mittels Zeugenberichten, die jedoch nach dem Bericht teilweise widerrufen wurden, in Zweifel.

Ayaan Hirsi Ali

Bis dahin war bekannt, dass Hirsi Ali über ihren Nachnamen und Geburtsdatum gelogen hatte - dies hatte sie selbst in ihrem vielgelesenen Buch "Die Söhnefabrik" beschrieben und in zahllosen Fernseh- und Zeitungsberichten immer wieder verkündet. Laut Hirsi Ali hatte sie dies bei ihrem Beitritt auch der VVD mitgeteilt. Zeuge eines Interviews mit ihrer Freundin und Parteigenossin, der EU-Kommissarin Nelie Kroes, worin diese behauptet, Hirsi Ali hätte 5 Bürgerkriege mitgemacht, war jedoch die Unwahrheit ihrer Asylangaben bezüglich der Ursache und Hintergründe ihrer Flucht nicht hinlänglich bekannt.

Die Strategien der "eisernen Lady"

Direkt vor Zemblas Reportage setzte der verbissene Kampf ein zwischen Rita Verdonk, der niederländischen Ministerin für Einwanderung und Ausländerfragen, und Mark Rutte, damals Staatssekretär für Erziehungswesen, um den Parteivorsitz der VVD.

Seit ihrem Antritt als Ministerin hatte Verdonk sich als Hardliner in ihrem Departement profiliert und sich den Beinamen "eiserne Rita" erarbeitet. Dass mehr als 26.000 integrierte ehemalige Asylsuchende die Niederlande verlassen müssen und seit 2004 nicht mehr in den Gemeinden aufgefangen werden oder Notgelder empfangen sollen, stützt auf einer Massnahme ihrerseits, welche in vielen Gemeinden auf grossen Protest stiess. Ihr harter Regierungskurs in Ausländerfragen machte Verdonk zur beliebtesten Ministerin der Niederlande. Es ist nicht auszuschließen, dass sie dies im Lauf der Zeit dazu bewegte, ihre Politik immer mehr an den Abgrund der Inhumanität zu schieben.

In diesem Licht würde sich jedenfalls erklären, dass Verdonk Ende 2005 für ein allgemeines Burkha-Verbot plädierte ([local] Holländische Regierung überlegt Burka-Verbot) oder einen Verhaltenscode einführen wollte, der besagt, dass in der - offenbar nicht besonders touristenfreundlichen - niederländischen Öffentlichkeit ausschließlich die Landessprache gesprochen wird.

Wiederholt kam die Ministerin in große politische Probleme. Im Dezember 2005 erzählte Verdonk dem Parlament anlässlich eines anprangernden Fernsehberichtes sehr entschlossen, dass ihr Immigrations- und Einbürgerungsdienst (IND) niemals kongolesischen Behörden Dossiers über abgewiesene Asylsucher aus diesem Land zugespielt habe. Später stellte sich jedoch im Bericht der Untersuchungskommission Havermans heraus, dass diese, durch internationale Verträge verbotene Übermittlung von Angaben aus Flüchtlingsdossiers, doch stattgefunden hatte.

Das falsche Informieren des Parlamentes durch Minister gilt in den Niederlanden als politische Todsünde und resultiert im Normalfall in Misstrauensvoten und häufig auch dem Rücktritt des gerügten Kabinettsmitgliedes. Trotzdem überlebte Verdonk die damaligen Misstrauensvoten der linken Parteien und konnte auch eine Wiederholung ähnlichen Fehlverhaltens des IND im April 2006 im Zusammenhang mit 181 syrischen Asylsuchenden nur zu Misstrauensvoten einer parlamentarischen Minderheit führen, nicht aber zu ihrem Rücktritt.

In die sehr lange Reihe politischer Probleme Verdonks gehört auch die Entrüstung einiger Parlamentsmitglieder darüber, dass im Jahr 2004 in einem Asylzentrum für Kinder im holländischen Oisterwijk mehr als hundert Kinder spurlos verschwanden, derweil Verdonks Beamte erst ein Jahr, nachdem sie dies erfahren hatten, die Polizei über das Verschwinden der Kinder informierte. Prompt entlarvte die Polizei verspätet ein Netz von Kinderschmugglern.

Nicht nur niederländische Politiker, worunter auch VVD-Koryphäen wie Jozias van Aartsen, Hans Dijkstal oder Ed Nijpels, kritisierten Rita Verdonk mitunter für ihre "eiserne" Asylpolitik indes scharf. Auch niederländische Kontrollbehörden wie der Ombudsmann oder die "Algemene Rekenkamer", bemängelten ihre Verwaltung. Und auch im internationalen Kontext erfolgten Beanstandungen der unzulänglichen Humanität Verdonks Flüchtlingspolitik, etwa durch den Rat von Europa, Amnesty International, Defence for Children, Unicef oder den niederländischen Kirchenrat.

Einige Monate vor der Reportage des staatlichen Fernsehsenders über Hirsi Alis Lügen, hatte Verdonk die ursprünglich aus dem Kosovo stammende 19-jährige Taida Pasic, kurz vor ihrem Abitur in Abschiebehaft nehmen lassen, da ihr Asylantrag wiederholt abgelehnt wurde. Anschließend wurde sie abgeschoben, obwohl die Haft sich später als unrechtmäßig herausstellte und zu Schadenersatzzahlungen an die 19-Jährige führte.

Weil Pasic die Medien nicht scheute, schreckte die Ministerin daraufhin nicht davor zurück, ihnen Auszüge aus Pasics Asyldossier zuzuspielen und sie dort als Lügnerin und Betrügerin zu beschimpfen. Die niederländische Behörde, welche den Datenschutz kontrolliert (CBP), untersuchte aus eigener Initiative dieses Vorgehen der Ministerin (es war das erste Mal, dass ein Minister geschützte personenbezogene Daten aus politischen Motiven veröffentlichte) und stellte fest, dass ihr Handeln unrechtmäßig gewesen sei. Auch dies wird nun wohl zu Schadenersatzzahlungen an Pasic führen.

Der Fall Taida Pasic wurde in der Presse breit ausgemessen. Er führte mitunter dazu, dass Hirsi Ali ihre Parteigenossin Verdonk anrief und sie informell bat, im Falle der Schülerin aus Kosovo Barmherzigkeit walten zu lassen und sie nicht abzuschieben. Laut dem Schriftsteller Leon de Winter, der während des Telefonats neben Hirsi Ali stand und das Gespräch mit der Ministerin später auch weiter führte, kam die Sprache damals auf Pasics Lügen. Hirsi Ali habe Verdonk gesagt, sie sei selbst ja auch trotz Lügen eingebürgert worden, weshalb auch Pasic nicht wegen eventuellem Schwindel ausgewiesen werden soll. Hierauf soll Verdonk laut de Winter geantwortet haben, dass sie, wäre sie damals schon Ministerin gewesen, Hirsi Ali ebenfalls ausgewiesen hätte.

"Regeln sind Regeln"

Am Tag nach dem Zembla-Bericht über Hirsi Alis erfundene Asylangaben und direkt nach einer Ministerratssitzung wies die Ministerin daraufhin, dass die Sache schon 14 Jahre her war und ihr gemäß keine Folgen habe. Drei Tage später befragte der seit 2005 unabhängige Parlamentarier Hildebrand Nawijn - pikanterweise der ehemalige Direktor des damals für Hirsi Alis Einbürgerung verantwortlichen IND und fünf Jahre später im drei Monate lang regierenden Kabinett Balkenende I auch Minister der LPF des gegenwärtigen Ministeriums von Verdonk - die Ministerin über die Reportage und Hirsi Alis Staatsbürgerschaft. Schon am nächsten Tag konnte die Ministerin das Parlament und Nawijn darüber benachrichtigen, dass Hirsi Ali, dem Ministerium gemäß, nie Niederländerin geworden sei.

Hirsi Ali erklärte in einer emotionalen Pressekonferenz, dass sie aufgrund des Berichts von Zembla und des gerichtlich erzwungenen Umzugs ihr parlamentarisches Amt niederlege und im August 2006 "traurig und erleichtert" die Niederlande verfrüht verlassen werde. Sie erklärte ferner, dass die Entziehung der Staatsbürgerschaft wegen falscher Angaben für sie in allen Fällen eine unverhältnismäßige Reaktion sei.

Verdonk berief sich bei ihrem Befund von Hirsi Alis nichtiger Staatsbürgerschaft auf ein Gerichtsurteil vom 11. November 2005 des niederländischen Berufungsgerichts (Hoge Raad). Es bezog sich auf den Fall der irakischen Familie Naïf, die zu Beginn der neunziger Jahre nach Holland geflüchtet war und beim Asylantrag einen - damals gegenüber der Behörde auch als fingiert postulierten - fiktiven Namen angab, um ihre im Irak zurückgebliebenen Familienangehörigen zu schützen. Die Familie erhielt Flüchtlingsstatus und wurde 1997 auch unter dem falschen Namen eingebürgert. 2004 war die Gefahr für die zurückgebliebenen Familienangehörigen gewichen, weshalb die Familie auf Anraten ihres Anwaltes die Einbürgerungsbehörde um Korrektur des falschen Namens in ihren Akten bat.

Verdonks IND verweigerte jedoch die Korrektur und nahm den Standpunkt ein, dass die Familie Naïf gar nie eingebürgert worden sei, worauf diese ein Gericht ersuchte, um ihre niederländische Staatsbürgerschaft fest zu stellen. Das Urteil des Berufungsgerichts bestätigte die vorhergehenden Urteile in dieser Sache und führte aus, dass - besondere Umstände dahingestellt - mit falschem Namen erschlichene Einbürgerungsakten unwirksam seien. Betroffene Personen könnten nie Niederländer werden, es sei denn, der falsche Name auf ihrer Urkunde hätte sie bei der Einbürgerung doch identifizieren können. Zu denken war laut Urteil an Orthographie- und Übersetzungsfehler, also Naiv statt Naïf.

Da allgemein bekannt war, dass Hirsi Alis Einbürgerungsakte einen falschen Namen nannte, sei auch sie nie Niederländerin geworden, kombinierte die Ministerin. "Regeln sind Regeln", verkündete sie: "Wer lügt, kann nicht Niederländer werden." Ihre eigenen wiederholten Lügen gegenüber dem Parlament konnten ihre eigene Staatsbürgerschaft glücklicherweise nicht in Frage stellen - sie war schließlich schon immer Niederländerin gewesen.

Ein Sturm heftiger Entrüstung entbrannte, nicht nur in der in- und ausländischen Presse, sondern auch im Parlament und selbst in der eigenen Partei VVD. Konnte es tatsächlich so sein, dass Hirsi Ali, die sich als Parlamentarierin auf Lebensgefahr hin in der öffentlichen Debatte exponiert hatte, nie die holländische Nationalität erhalten hätte? Welche Folgen hätte dies im staatsrechtlichen Sinn? Waren nicht alle seit 2003 vom Parlament angenommenen Gesetzesvorlagen plötzlich verfassungswidrig, da eines der 150 Parlamentsmitglieder keine niederländische Bürgerin war, die Verfassung dies aber vorschreibt?

Es folgte eine nervenaufreibende und sehr lange nächtliche Debatte im Parlament. Bis zum Äußersten hielt Verdonk dabei sowohl an ihrer Überzeugung fest, dass sie keine andere Wahl gehabt habe, als Hirsi Ali über ihre nie erfolgte Einbürgerung aufzuklären, wie auch daran, dass dies keineswegs aufgrund mangelnder Sorgfalt geschehen sei.

Eine überwältigende parlamentarische Mehrheit entschied, dass Verdonks Handlungsweise übereilt war; sie hätte durchaus andere Möglichkeiten gehabt. Nun hatte die Ministerin tatsächlich keine andere Wahl mehr - jedenfalls, wenn sie im Amt bleiben wollte -, als die dringenden Empfehlungen des Parlamentes anzunehmen, ihre Haltung zu überdenken und einzugestehen, dass sie sehr wohl anders hätte handeln können. Das Parlament gewährte ihr sechs Wochen, um Hirsi Ali entweder zur Niederländerin zu machen oder sie dies bleiben zu lassen.

Gleichwohl verkündete Verdonk am nächsten Tag während ihrer Kampagne für den VVD-Vorsitz stoisch, sie hätte nicht anders handeln können - Regeln sind Regeln und wer lügt, kann kein Niederländer werden.

Inzwischen regte sich unter Juristen Widerstand gegen das bis dahin offensichtlich nur am Rande wahrgenommene Urteil des Berufungsgerichts in der Sache der irakischen Familie Naïf, auf welches sich die Ministerin ständig berief. Waren Unwirksamkeit oder Nichtigkeit einer mit falschen Personenangaben erschlichenen Einbürgerung auch dann verhältnismäßig, wenn die Betroffenen selbst um die Korrektur eines wegen drohender Gefahr fingierten Namens ersuchten? War die Feststellung der rechtlichen Unwirksamkeit, welche die Identitäten ganzer Familien in einem Schlag auslöscht, auch dann angemessen, wenn in Betracht gezogen wird, dass bei einer solchen Feststellung kein verwaltungsrechtlicher Rechtsschutz gewährleistet wird? Und vor allem: Ließ die im Jahr 2003 erfolgte Einführung der gesetzlichen Möglichkeit des Entzuges einer durch Betrug erschlichenen Staatsangehörigkeit noch zu, dass man sie in Fällen von falschen Namensangaben nicht etwa entzieht, sondern ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage rückwirkend als nie erfolgt betrachtet?

Unter Juristen herrschte die Haltung, dass der Beschluss des Berufungsgerichts vom 11. November 2005 in der Sache der Familie Naïf ein Fehler sein musste, weil es die Rechtssicherheit und das neue Einbürgerungsgesetz nicht berücksichtigte. Falsche Namen sollten als Betrug gelten, den das neue Gesetz festlegt, und deshalb gegebenenfalls zum dort geregelten Entzug der Staatsbürgerschaft führen, aber diese nicht rückwirkend unwirksam machen. Im Fall von Hirsi Ali hätte dies bedeutet, dass sie 1997 sehr wohl Niederländerin geworden wäre, die Verwaltung die Staatsangehörigkeit aber wegen des Betrugs unter Umständen hätte entziehen können.

Neue Regierung mit alter Ministerin

Ein gebürtiger Jugoslawe befand sich in ähnlicher Situation wie die Familie Naïf. Er hatte seine Einbürgerung 1999 ebenfalls mit einem falschen Namen erschlichen und bei seinem späteren Antrag um Korrektur des fingierten Namens gebeten, aber von Verdonks IND vernommen, dass er gar nie die holländische Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Seinen Fall legte er ein halbes Jahr nach der Familie Naïf, nämlich Ende April 2005, ebenfalls den Gerichten vor. Zum ersten Mal entschieden Richter hier anders als bisher in Fällen von mit falschen Namen erschlichenen Einbürgerungen. Entsprechend der Haltung vieler Juristen, aber im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung, argumentierte das erstinstanzliche Gericht, dass seit der gesetzlichen Einführung der Möglichkeit des Entzugs eine rückwirkende Nichtigkeitserklärung keine angemessene Maßnahme mehr sein könne, sondern dass gegebenenfalls eben eine Entziehung der Staatsangehörigkeit erfolgen müsse.

Der IND unter Verdonk ging im Februar 2005 in Berufung, was im nachhinein erstaunt angesichts Verdonks Argument im Fall von Hirsi Ali, sie habe keine andere Wahl gehabt. Das Urteil des Berufungsgerichts im Fall des Jugoslawen sollte während oder kurz nach dem Eklat über Hirsi Ali - diesmal unter großer Aufmerksamkeit wegen der Konsequenzen für diese - bekannt gegeben werden.

Nach den sechs Wochen, die Verdonk gegönnt waren, um Hirsi Ali entweder zur Niederländerin zu machen oder ihr dies zu verwehren, erfolgte die große Überraschung: Hirsi Ali hatte laut ihrer Anwälte und inzwischen auch dem Ministerium gemäß gar nie einen falschen Namen angegeben. Nach dem somalischen Namenrecht, das hier entscheidend war, durfte sie den Namen ihres Großvaters Ali führen. Hirsi Alis eigene Überzeugung, sie hätte sich nach ihrem Vater nennen müssen, also "Hirsi Magan", war falsch.

Es schien eine elegante Lösung - wenngleich es durchaus etwas merkwürdig war, dass die Ministerin sie bisher übersehen hatte -, ermöglicht auch durch das diesbezüglich undeutliche somalische Recht und die lückenhafte somalische Verwaltung. Das falsche Geburtsdatum oder die erlogene Flüchtlingsgeschichte hatten inzwischen offenbar völlig an Belang verloren.

In der noch längeren nächtlichen parlamentarischen Debatte am 29. Juni 2006 schien denn zuerst auch alles wieder in bester Ordnung. Erst um halb drei begann es schief zu laufen. Der inzwischen müde Premierminister wurde gerade zu den letzten Sätzen der Erklärung befragt, welche Hirsi Ali der Ministerin gegeben hatte. Darin hielt Hirsi Ali fest, dass sie selbst alle Schuld trage an den Verwicklungen bezüglich ihres Namens, der Ministerin nichts vorzuwerfen sei und dass sie sich für ihre Falschaussage bezüglich der vermeintlichen Lüge entschuldige.

Sowohl Verdonk wie auch Balkenende hatten bis dahin erklärt, dieses Schuldeingeständnis sei aus juristischer Perspektive notwendig gewesen. In einem Moment fehlender Aufmerksamkeit erklärte der Premierminister allerdings nun, dass das Eingeständnis nötig gewesen sei, weil Verdonk darauf bestanden hatte. Nicht juristische, sondern persönliche Motive hatten offenbar dazu geführt. Der Eindruck drängte sich auf, die Ministerin habe Hirsi Ali mit dem Machtmittel der Staatsbürgerschaft dazu erpresst, alle Schuld auf sich zu nehmen.

Für die kleinste Regierungspartei, D66, brachte dies das Fass dann doch zum überlaufen. Sie forderte den Rücktritt der Ministerin. Die parlamentarische Mehrheit stützte einmal mehr das Misstrauensvotum gegen Verdonk nicht und so blieb D66 nichts anderes übrig, als selbst aus der Regierung auszutreten und Balkenende II damit aufzulösen.

Balkenende III konnte schließlich, vom gesamten Parlament, auch von der D66, unterstützt und ohne weitere Komplikationen (wie Neuwahlen), eine Minderheitenregierung mit zwei neuen Ministern von den beiden übrig gebliebenen Koalitionsparteien CDA und VVD bilden. Die umstrittene Ministerin Verdonk leitet auch in dieser Regierung das Ministerium für Einwanderung und Ausländerfragen und zwar - jedenfalls bei ausbleibenden neuen Fehltritten - wohl bis zu den für den 22. November 2006 angekündigten Neuwahlen.

Am 30. Juni erfolgte das ursprünglich mit Spannung erwartete Urteil des Berufungsgerichts im Fall des oben erwähnten Jugoslawen, der sich unter falschem Namen hatte einbürgern lassen. Für Hirsi Ali konnte das Urteil inzwischen keine Konsequenzen mehr haben, sie hatte ja offenbar gar keinen falschen Namen gebraucht. Und ebensowenig für die anderen - laut Ministerium 74 Fälle, den Gemeinden zufolge ist die Anzahl viel höher -, bei denen der IND seit 2000 festgestellt hatte, dass sie wegen fingierten Namen auf der Einbürgerungsurkunde nie Niederländer geworden seien (wonach sie trotz weitgehender Integration abgeschoben wurden). Nur für kommende Fälle konnte es relevant sein.

Das Berufungsgericht entschied, dass das bereits erwähnte neue Gesetz, das die Möglichkeit beinhaltet, die Staatsbürgerschaft bei Betrug zu entziehen, auch in Fällen von fingierten Namen gilt. Betroffene Personen sind dementsprechend trotz des falschen Namens auf der Urkunde sehr wohl Niederländer geworden und die Staatsbürgerschaft kann nun unter spezifischen Umständen entzogen werden, übrigens auch wenn dadurch Staatenlosigkeit entsteht. Allerdings betrifft dies ausschließlich die Fälle, in denen die mit falschen Namen erschlichenen Einbürgerungen nach dem 1. April 2003 erfolgten.

Personen, die wie der Jugoslawe vor dem 1. April 2003 bei ihrer Einbürgerung einen falschen Namen angegeben hatten, wurden hingegen nie Niederländer. Es ist evident, dass dies eine schwerwiegende Rechtsungleichheit zur Folge hat für die Fälle vor dem 1. April 2003 und für die danach. Der weiterhin amtierenden Ministerin für Einwanderung und Ausländerfragen wird dies keine schlaflosen Nächte bereiten. Sie hält das Gesetz vom 1. April 2003 wohl immer noch für einen Scherz.

Amen und Danke!

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