Ich stellte die Frage:
Warum werden heute sozial ausgegrenzte Menschen als "Prekariat" abgehängt?
- Weil die Massen von Industrie-Arbeitern die ab Ende des XIX. Jahrhunderts zu den Städten gezogen wurden, auf technologischen und ökonomischen Gründen heute nicht mehr gebraucht werden.
- Weil die Kollektivdiensten (Bezahlbare Mietwohnungen, Unterricht, Krankenversicherung, Arbeitslosengeld) zur Zeit eingeführt worden sind, um die aufgezwungen Nachbarschaft der armen Massen hygienisch und sicherheitshalber, tragbar zu machen.
- Weil dergleiche urbane Nachbarschaft jetzt nicht mehr nötig ist, gibt es eine ideologische Rechtfertigung der Abhängung (erst der Immigranten, später der andern) die sich stützt auf ein theoretisches Marktdenken: "Gib dem Konsüment Wahlfreiheit durch Privatisierung von allerhand Dienstleistungen." Diese Freiheit aber, gibt es nur für denen die etwas zu wählen HABEN. Die Freiheit der Reicheren, ist das Gefängniss der Armen.
- Somit ist jetzt Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit mehr und mehr Schuld des Prekariats selbst. Neokonservative haben diese Gedanke erst entwickelt, aber man kann sie auch zurückfinden bei Steingarth (Spiegel-Redakteur) in seinem letzten Buch.
Die sprachlich kompetente Welt (wo es kaum Prekäre gibt) die dort zu Wort kommt, sucht Lösungen (oder beschränkt sich zu Klagen) über der a-soziale, unsolidarischen, Haltung der Ausgegrenzten selbst.
Es ist die umgekehrte Welt:
Nicht die Abgehängten werden als Opfer gesehen, sondern diejenigen die, dank der kollektiv finanzierter Abhängung, in ungefähr bequemen Verhältnissen leben können!Dies ist genau die Umkehrung des Klassenkampfs*), wie Neokonservative sie gerne sehen: Die Mittelschicht gegen die Unterklasse, statt wie bisher, das Proletariat*) gegen die Besitzer.
Nicht die immer reichere Überklasse ist Schuld (die skandalöse Selbstbereicherung einer dünnen Schicht von Kapitalbesitzer und Aufsichtsratsmitglieder wird seit den achtziger Jahren immer wieder statistisch festgestellt), sondern die Abgehängten drüben.
Nicht die Vermarktung, nicht die Hedgefunds, nicht das zu grosse Anteil der Luxusinvestitionen und der unproduktiven Investitionen in Immobilien, sind Schuld an die ungelenkte Migration von Arbeitskraft, sondern die Leute die nicht mitmigrieren könnten!
- Aber der Sozialkapitalismus hat nicht definitiv ausgedient. Es gibt neue Wege um sich aus der Abhängung zu befreien. Ohne Revolution machen zu müssen.
Un das geht sehr wohl innerhalb der heutigen europäischen ökonomischen, technologischen und sozialen Verhältnissen.
Wie denn? - Dazu brauchen wir uns zu befassen mit den konkreten Lebensverhältnissen des Prekariats.
- Erstens: Es ist urban. Es lebt in bestimmten "abgehängten" Stadtvierteln, im alten Zentrum oder in Grossbäuten (Plattenbäuten) am Stadtrand. Man ist einander physisch nah. Das ergibt Möglichkeiten zur Aufhebung der gegenseitingen Verfremdung, Abgrenzung und Verfeindung zwischen Individuen, Gruppen, Generationen, (Rest-)Kulturen und Ethnien.
- Zweitens: Die Meisten dieser Menschen besitzen eine Reihe von unbenutzten Fähigkeiten und Kenntnissen.
- Drittens: Durch einer wohlgelenkten kollektiven Aufbietung kann das ökonomische, soziale und kulturelle Potential mobilisiert und vermarktet werden durch innovativen Produktions- und Dienst-Leistungen.
- Spricht hier ein alter Idealist der in den Sechziger Jahren steckengebieben ist?
- Kaum:
Es gibt eine Methodik zum stadtviertelbedingten Emanzipationsprozess, die ich kenne aus meiner Berufspraxis, und die, unter Umständen, eine fast wunderbare Revitalisation der Bevölkerungsgruppen in der abgehängten Stadtvierteln leisten kann. Es ist ein Mund voller Bürokratenwörter, aber es gibt ja keine andere Umschreibung: "Partizipative, stadtteilbezogene, integrierte Regenerationsprojekte."Hauptsache dabei ist das "Empowerment" von Gruppen und von Einzelnen, durch eine Kombination von ökonomischen, sozialen, Unterrichts- und (ja, auch:) kulturellen Massnahmen. Dabei könnte es geschehen, dass die Frau Hundebemahlerin**) nach wenigen Jahren sich umgewandelt hat in eine kompetenten, selbstbewussten Bürgerin...
Stadtbezogen
Bundesgenossen dabei sind die städtische Verwaltungen, die, besser als die Unternehmen im produktiven oder dienstleistenden Bereich, und besser auch als die Nationalverwaltungen, verstehen, welchen Risiken drohen für eine Implosion der ökonomie, der Sicherheit, des Unterrichts, der Kultur, usw. Viele europäische Städte gehen auf dieser Weise, mittels Projekt-Teams, in den Vierteln vor. Die Vorgehensweise dabei soll "holistisch", allen Lebensbereichen umfassend, sein, um sodann, nach Analyse der Problemen und der Möglichkeiten, und nach Abstimmung met Bürgeren und andern Partnern, ein mehrjähriges Prozess anzugreifen.
Über diese Vorgehensweise besteht noch viel Verwirrung und Unkenntniss. Obwohl die Städte in den letzten Jahren in diesem bereich vielseitigen Unterstützung aus Europa bekommen haben, sind sie meistens ungenügend ausgestattet (Geld, Kenntniss, Personal, wechselnde politischen Mehrheiten, nationale Prioritätenwechsel...) um dergleichen mehrjährigen Interventionen mit dauerhaftem Erfolg zu Ende zu bringen.
E-Urban ist geschaffen worden, um diese Betrachtungsweise der Problematik (aber auch der wirksamen Lösungsmöglichkeiten!) zu fördern vom Gesichtspunkt der europäischen städtischen Projektteams heraus.
-------------------------
Anmerkungen:
*) "Klassenkampf", "Proletariat": Unwörter einer abgeschlossenen Epoche? - Wir sind es nicht gewesen, die sie neubelebt haben.
Amerikanische Neokonservative stacheln seit den siebzigern Jahren zu diesem "umgekehrten" Klassenkampf an, indem sie die Mittelschichten (mit Einbegriff des vormaligen 'Proletariats') warnen gegen die angeblich parasitären Bestrebungen der drogensüchtigen, allein stehenden Mütter und ihrer kriminellen Partnern. Klassenkampf, getarnt wie Disziplin- und Kulturkampf.
**) Die "Hundenbemahlerin" wurde vorgeführt in einer Bericht (22. November) im deutschen Fernsehen. Eine arbeitslose Frau, Vierzigerin, versucht vergebens den Weg zurück am Arbeitsplatz zu finden durch einem prekären Job. Sie bemahlt hölzernen Hundefiguren in Heimarbeit.
[Bilder: 1. Stuttgart, 2006 (Spiegel); 2. Clichy bei Paris, Dezember 2005 (Le Monde); 3. "Julie, Den Haag", bekrönte Reihe von europäischen Frauenporträts von Rineke Dijkstra (c)]
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen